Blog-Beitrag X (03.06.20)

Foto: Jakob Wiedekind

Proteste und Unruhen in den USA – Wendepunkt im Wahljahr 2020?

von Prof. Dr. Christiane Lemke und Jakob Wiedekind, M.A.:

„Wir sind mit der Geduld am Ende“, so wird die Stimmung der Protestierenden in den USA derzeit immer wieder auf den Punkt gebracht. Nach dem durch exzessive Polizeigewalt verursachten Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis (im Bundesstaat Minnesota) am 25. Mai breiten sich die Proteste gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt wie ein Lauffeuer im gesamten Land aus. In mehr als 140 Städten wurde bisher demonstriert; Gouverneure in 40 Bundesstaaten haben den Notstand ausgerufen und in 21 Bundesstaaten hatten sie bis zum 01. Juni die Nationalgarde mobilisiert. Die Situation spitzte sich schnell immer weiter zu: im Anschluss an die Vielzahl der friedlichen Proteste und Demonstrationen kam es auch vielerorts zu Gewalt und Plünderungen. Der Präsident warf den Gouverneuren „Schwäche“ vor und drohte sogar mit dem Einsatz des Militärs. Neben die schwere Pandemie-Krise, in der das Coronavirus bislang 1,8 Millionen Menschen in den USA infizierte sowie 105,095 Menschen an den Folgen der Infektion starben und in der es zu einer schweren Wirtschaftskrise mit – bis heute – 41 Millionen neuen Arbeitslosen kam, tritt eine zweite gravierende Krise ausgelöst durch rassistische Polizeigewalt.

Angesichts der Ausweitung und der Intensität der Proteste im Anschluss an den tragischen Tod von George Floyd steht außer Frage, dass die aktuellen Unruhen entscheidende Konsequenzen für die Wahlen haben werden. Was ohnehin schon aufgrund der Corona-Pandemie ein besonderes Wahljahr war, wurde durch die Unruhen nun endgültig zu einem Kampf um die Seele und die Zukunft der USA. Nicht zuletzt deshalb drängt sich die Frage auf, ob dies die Chance für Joe Biden ist, den Wahlkampf zu seinen Gunsten zu wenden und die Präsidentschaftswahl im November schlussendlich zu gewinnen. Gibt es historische Parallelen, die die aktuelle Lage und ihre Bedeutung für die Wahl nachvollziehbarer machen? Wird Donald Trump an dieser doppelten Krise scheitern, oder kann er sogar davon profitieren? Es sei vorweggenommen, dass dies natürlich einen Blick in die Zukunft impliziert, der sich einer gewisse Prägung durch vorhandene Unsicherheit über die weiteren Entwicklungen nicht gänzlich entziehen kann. Dennoch gibt es historische Parallelen und erfassbare Entwicklungen, die uns in der Suche nach möglichen Antworten auf diese Fragen hilfreich erscheinen und die wir hier reflektieren wollen. Abbildung 1 erlaubt uns zunächst einen gründlichen Überblick über die zuvor bereits angedeuteten Ausmaße der Protestwelle, die von den Ereignissen des 25. Mai ausgelöst wurde. Die roten Punkte markieren Städte, in denen es zu Protesten kam, während gelb markierte Staaten bereits die Nationalgarde mobilisiert haben (Stand 31.05.20).

 

Abb. 1 Übersicht über die Protestlage 

Quelle: New York Times

Es wird klar, dass der Tod von George Floyd einen empfindlichen Nerv in den USA getroffen hat. Dennoch übersteigen die Ausmaße, die vereinzelte Gewaltbereitschaft und die Dauer der Proteste alles, was wir in den letzten Jahrzehnten in den USA gesehen haben. Barack Obama rief in einem jüngsten Essay dazu auf, aus diesem Moment einen wahren „Turning Point“ für die USA zu machen und unterstreicht so die Bedeutung der aktuellen Protestbewegung. Die energische Hauptforderung der Protestierenden nach Gerechtigkeit richtet sich insbesondere gegen die immer noch bestehende ungleiche Behandlung der Afroamerikaner durch Polizei und Justiz sowie gegen den Rassismus, der noch immer tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist. Wir erleben eine wirklich aufgeheizte Atmosphäre in den USA und es ist schwierig von der Hand zu weisen, dass die polarisierende Rhetorik und die autoritären Impulse von Präsident Trump ihren Teil dazu beitragen. Afroamerikanische Intellektuelle, wie Ta-Nehisi Coates, argumentieren, dass die aktuelle Administration schon im Wahlkampf 2016 durch die Ideologie einer weißen Überlegenheit (white supremacy) motiviert gewesen sei und ihr im Amt weiter Vorschub leiste. Coates führt weiter aus , dass Trump insbesondere von einer teils verunsicherten weißen Bevölkerung gewählt worden sei, die eine Korrektur der Präsidentschaft des ersten Afroamerikaners im Weißen Haus wünschte. Natürlich spielen für den Wahlerfolg von Trump und die weitgehend ungebrochene Treue seiner Basis andere Faktoren ebenfalls eine Rolle. An anderer Stelle auf diesem Blog gingen wir diesbezüglich zum Beispiel auf parteiinterne Dynamiken und wirtschaftliche Entwicklungen im Kontext der Globalisierung ein. Die jüngsten Entwicklungen rücken jedoch zu Recht die Debatte um den Rassismus und den Kräften, die ihn unterstützen anstatt ihn zu bekämpfen in den Vordergrund. 

Die unverhältnismäßig harte Polizeigewalt speziell gegenüber Afroamerikanern hat in den USA bedauerlicherweise eine lange Geschichte. Einige Beobachter wie zum Beispiel Manfred Berg (2014 in seinem Buch „Lynchjustiz in den USA") führen sie auf das Erbe der Sklaverei zurück und beklagen die sich bis heute fortsetzenden brutalen Methoden bei Verhaftungen und Verhören von Afroamerikanern. In eine ähnliche Richtung argumentierte der an der Georgetown University lehrende Professor für Rechtswissenschaft, Paul Butler, in seinem 2017 erschienen Werk „Chokehold. Policing Black Men“. Wenn wir also auf die aktuelle Lage schauen, darf nicht der Eindruck einer besonders einzigartigen Ausnahmesituation darüber hinwegtäuschen, dass wir von einer strukturellen und gesellschaftlichen Problemlage reden, deren Bekämpfung Generationen beschäftigt.

Der Tod des 46 Jahre alten Afroamerikaners George Floyd als Auslöser für die Proteste steht in einer längeren, traurigen Liste von durch Polizeigewalt und -willkür ausgelösten Todesfällen in den letzten Jahrzehnten. Historische Parallelen des Falls drängen sich auf insbesondere mit Blick auf die Erschießung des Schülers Michael Brown durch einen Polizisten in Ferguson 2014, sowie zur Verhaftung des asthmakranken Afroamerikaners Eric Garner 2014 in New York, der im Würgegriff eines Polizisten um Luft rang und kurz darauf verstarb. Der Hilferuf von George Floyd „I can''t breathe” wurde nun zum Protestsymbol der 2013 ins Leben gerufenen „Black Lives Matter“- Bewegung, einer dezentralen sozialen Bewegung, die sich gegen Gewalt gegenüber Schwarzen und people of color einsetzt. Der Fall George Floyd brachte also in gewisser Weise das Faß zum überlaufen und mobilisierte eine weitgehend etablierte und durchaus professionalisierte Protestbewegung in den USA. Mit Blick auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl drängt sich eine weitere Parallele auf: 

Schon einmal wurde eine Präsidentschaftswahl durch die sich rasch ausbreitenden Proteste gegen Rassismus und Gewalt nachdrücklich beeinflusst. Nach dem tödlichen Attentat auf den Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King am 04. April 1968 erlebten die USA wochenlang schwerste Unruhen; in über 100 Städten kam es zu Protesten und Krawallen, bei denen 39 Menschen ums Leben kamen, etwa 2.600 wurden verletzt und rund 21.000 Personen wurden verhaftet. Die Kämpfe konzentrierten sich vor allem in den Ghettos der größeren Städte, wodurch ganze Stadtteile nahezu vollständig zerstört wurden und Jahrzehnte benötigten, um sich wieder zu erholen. Neben der Nationalgarde wurde damals auch das Militär zu Hilfe gerufen. Als kurz darauf auch der demokratische Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy einem Attentat zum Opfer fiel, wurde das Thema der inneren Sicherheit endgültig zum dominanten Wahlkampfthema. Das Wahljahr 1968 markierte daher in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt. Klarer Sieger der Wahlen wurde der Republikaner Richard Nixon mit einer strikten Law- und Order-Position und der Abgrenzung vom afroamerikanischen Aktivismus; beides wurde fortan für die Konservativen zum Markenzeichen, was in vielerlei Hinsicht in der sogenannten „Southern Strategy“ der republikanischen Partei begründet ist (vgl. dazu Blog-Beitrag V). Besonders interessant an der Präsidentschaftswahl 1968 ist auch, dass der damalige Gouverneur von Alabama, George Wallace, als rechtskonservativer Populist und überzeugter Vertreter der Rassentrennung (segregationist) selbst als unabhängiger Kandidat immerhin fünf Südstaaten (Louisiana , Mississippi, Alabama, Georgia und Arkansas) recht deutlich für sich entscheiden konnte. Das zeigte wie tief rassistisches Gedankengut insbesondere in den amerikanischen Südstaaten verankert ist.

Der historische Vergleich zwischen damals und heute könnte zumindest vermuten lassen, dass auch die aktuellen Unruhen mindestens in jenen Bundesstaaten Trumps Popularität wenig schaden werden, in denen die Ideologie der weißen Überlegenheit immer noch sehr lebendig ist. Ob dies auch im Sinne einer Mehrheit im electoral college für einen schlussendlichen Wahlsieg Trumps reicht, darf bezweifelt werden, da die aktuellen Unruhen weite Teile der Bevölkerung mobilisiert und potenziell im November in die Wahllokale treibt, die ihr Kreuz kaum bei Trump setzen werden. Es ist allerdings beunruhigend, dass heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach 1968, Rassismus und Gewalt immer noch so dominante Themen sind, die breite Schichten in der Gesellschaft bewegen und zu massiven Protestbewegung motivieren. Politischer Wille und gesellschaftliche Aufklärung, grundlegende institutionelle Veränderungen sowie Reformen im Justiz- und Polizeisystem müssten offensichtlich viel konsequenter und durchgreifender erfolgen, um hier Abhilfe zu schaffen. Klar ist auch, dass die strukturelle Benachteiligung und der offene Rassismus mit Gewaltpotenzial in den USA nicht hätten fortexistieren können, wenn es nicht machtvolle Akteure gäbe, die an ihrem Fortbestand Interesse haben und mindestens durch Inaktivität einer zielführenden Bekämpfung des Problems im Wege stünden. 

Trotz des immer noch bestehenden Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich gegenüber 1968 jedoch vieles verändert hat. Die heutige Protestbewegung wird von breiteren Schichten der Gesellschaft unterstützt; hierzu gehören nicht nur viele weiße Amerikanerinnen und Amerikaner, sondern auch andere „people of color“ und vor allem jüngere Teilnehmer. Der Wahlerfolg von Barack Obama 2008 und 2012, dem ersten afroamerikanischen Präsidenten im Weißen Haus, beruhte darauf, diese „bunte“ Koalition zu schmieden und zu mobilisieren, an die nun Joe Biden anzuknüpfen hofft. Eine jüngere Generation von Aktivisten wuchs heran und sah sich durch Obama ermutigt, selbst in der Politik aktiv zu werden. Die klassische Verbindung zwischen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, den (schwarzen) Kirchen, und dem Parteieestablishment der Demokraten wird heute, zumindest teilweise, durch eine neue jüngere Generation ergänzt, was sich auch schon bei den Zwischenwahlen 2018 zeigte. In den heutigen Protesten spielen auch die sozialen Medien, anders als 1968, eine entscheidende Rolle zur Vernetzung und für die Unterstützung der Aktivisten. Millionen von Nutzern in der ganzen Welt posteten am 02.06. ein komplett schwarzes Bild auf Twitter, Facebook und Instagram unter dem Hashtag „blackouttuesday“ und solidarisierten sich klar mit der Forderung nach Gerechtigkeit und einem Ende des Rassismus in den USA.

Die Reaktionen von Präsident Trump, der nur zu gern über die Sozialen Medien kommuniziert, waren zunächst widersprüchlich. Er drückte zwar am Rande des Raketenstarts von SpaceX am 30.05. sein Bedauern über den Tod von George Floyd aus und das Justizministerium ordnete eine Untersuchung durch das FBI an; Trump versäumte aber, Worte der Versöhnung und des Ausgleichs zu finden, sondern heizte die Stimmung durch einige seiner Tweets weiter an. Eine Ansprache an die Nation, die viele Beobachter erwartet hatten und die angesichts der sich ausbreitenden Krise angemessen erschien, hielt der Präsident nicht. Stattdessen warf er den Gouverneuren der betroffenen Bundesstaaten „Schwäche“ vor und forderte sie auf, härter gegen die Demonstranten vorzugehen. Seinem autoritären Impuls folgend, drohte er auch, er werde das Militär entsenden. Die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme ist unter Rechtsexperten allerdings im aktuellen Kontext höchst umstritten; auch mehrere Gouverneure äußerten sich ablehnend, entsetzt und höchst besorgt über diesen Vorschlag. Als rechtliche Grundlage für die Mobilisierung des Militärs wird ein Gesetz aus dem Jahr 1807 angeführt, das den Präsidenten bemächtigt, bei starken Unruhen oder einer Rebellion Truppen zu entsenden. Allerdings bedarf dieser Einsatz einer Aufforderung durch den Bundesstaat, welche durch die Gouverneure oder durch eine Entscheidung der Legislative ausgesprochen wird.

Historisch ist der Einsatz des Militärs bei Protesten zwar schon vorgekommen – beispielsweise in den 1950er und 60er Jahren als sich Südstaaten weigerten, dem Bundesgesetz zu folgen und die Rassentrennung in Schulen aufzuheben; auch 1992, als es nach dem Freispruch der Polizisten, die für den Einsatz brutaler Polizeigewalt gegen den Afroamerikaner Rodney King angeklagt waren, zu schwere Unruhen in Los Angeles kam, erfolgte auf Anforderung durch den Gouverneur Kaliforniens ein Einsatz des Militärs. Ein solches Vorgehen gegen den erklärten Willen der Gouverneure käme jedoch einem Bürgerkrieg nahe und würde in jedem Fall kaum zu einer Deeskalation beitragen können. Militäreinsätze im Landesinneren sind im Übrigen politisch höchst umstritten, denn sie polarisieren die Gesellschaft stets nachhaltig. Aber vielleicht ist es genau das, was Präsident Trump erreichen möchte: eine Verschärfung der Polarisierung, die das Entstehen einer weitgehend geschlossenen und mehrheitsfähigen Wählerkoalition für Joe Biden im Weg steht. Zumindest in der Rhetorik testet und überschreitet Präsident Trump, zumeist über Twitter, regelmäßig die Grenzen dessen, was üblicherweise als akzeptabel für einen Präsidenten gilt, wodurch in der Auseinandersetzung mit seinen Positionen scheinbar nur zwei Extreme bleiben: Zustimmung oder Ablehnung. Die Erosion eines deliberativen Mittelwegs ist ein Eckpfeiler populistischer Wahlkampftaktik, die Trump schon 2016 perfektionierte. Dass selbst in der aktuellen Situation Umfragen zu dem Ergebnis kommen, dass etwa 40% der Befragten Trump wiederwählen würden, darf zumindest zur Skepsis über die tatsächliche Umsetzungsrate von Protest in Wahlausgang aufrufen.

Dass Biden in dem Kampf um das Weiße Haus der natürliche Kandidat für große Teile der aktuellen Protestbewegung sein muss, dürfte klar sein. Seine jüngste Rede in Philadelphia machte seine entschlossene Unterstützung für die friedlichen Proteste klar und er positionierte sich recht unmissverständlich als Unterstützer im Kampf gegen Rassismus. Die Kernbotschaft seiner Rede, die auch an expliziter Kritik an Trump nicht sparte, war, dass er ein gespaltenes Land wahrnehme, welches er während seiner möglichen Präsidentschaft zusammenführen wolle. Der Weg zu einer Mehrheit im electoral college wird aber fundamental davon abhängen, inwieweit Biden das aktuelle Momentum bis November am Leben erhalten kann. Wirklich gefährlich wird für Trump insbesondere die Kombination der aktuellen Krisen, da konstruktive Lösungen von seiner Administration mit tatsächlichen Effekten für die Realitätserfahrung der amerikanischen Wählerinnen und Wähler kaum erkennbar sind. So könnte ein Erfolgsrezept für die Demokraten sein, nicht nur auf Trumps Mismanagement in der Coronakrise und seine unstrukturierte Reaktion auf die aktuellen Unruhen abzustellen, sondern den Amerikanern durch Problemlösungskompetenz mittels konkreter Pläne zu imponieren. Trump, auf der anderen Seite, wird kaum von seinem Erfolgsrezept aus 2016 abweichen, welches auf Polarisierung und Realitätsverzerrung basiert. Es ist in diesem Sinne bezeichnend, dass seine bevorzugte Online-Plattform Twitter zuletzt mit einer gängigen Konvention brach und einige seiner Tweets mit eine Fact-Check richtigzustellen versuchte. Der Ausgang im November bleibt offen, aber die aktuelle Situation und Trumps Umgang mit ihr spielt aus unserer Sicht eher den Demokraten als den Republikanern in die Hände.

Die Protestlage scheint sich zumindest seit gestern etwas zu beruhigen, wenngleich Präsident Trump kürzlich erneut Gouverneure dazu aufrief, das Militär zu involvieren.