Gastbeitrag III (08.05.20) von Dominic Nyhuis

Foto: Jakob Wiedekind

Die Parteiorganisation in den Vereinigten Staaten

Vorbemerkung: In diesem Beitrag wird der Blick auf die Parteiorganisation in den USA mit einem spezifischen Fokus auf den Prozess zur Nominierung der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Herbst geworfen. Die Beispiele beziehen sich ausschließlich auf die demokratische Partei, da die Kandidatenauswahl in der republikanischen Partei aufgrund der erneuten Kandidatur des Amtsinhabers Donald Trump weniger interessant ist.

Parteien sind in den Vereinigten Staaten anders organisiert als in Deutschland. Aus deutscher Sicht sind die Parteiorganisationen in den USA eher schwach und dezentralisiert. An keiner Stelle wird diese Schwäche deutlicher als in der außerparlamentarischen Organisation von Parteien. Aus Deutschland sind wir hierarchisch aufgebaute Parteiorganisationen gewohnt; programmatische und personelle Richtungsentscheidungen werden in den Parteizentralen oder auf Parteitagen getroffen. Zwar können auch deutsche Parteien kaum als Horte der Harmonie beschrieben werden, dennoch sind Parteien in Deutschland viel stärker von dem Gedanken geprägt, dass man eine gemeinsame Linie zu finden und nach außen zu vertreten habe.

In den USA spielen solche Überlegungen eine weitaus geringere Rolle. In den Vereinigten Staaten sind Parteien eher lose Verbünde, die auch programmatisch viel breiter aufgestellt sind als deutsche Parteien – obschon durch die politische Polarisierung der vergangenen Jahren gewisse Fliehkräfte eingesetzt haben, die moderate Kräfte vor allem aus der republikanischen Partei zu verdrängen drohen (siehe dazu die Blog-Beiträge V und VIII auf diesem Blog). Auch in parlamentarischen Kontexten treten US-Parteien im Regelfall weniger diszipliniert auf als deutsche Parteien. Weder sprechen die Abgeordneten mit einer Stimme, noch folgen sie bei parlamentarischen Abstimmungen immer konsequent der Parteilinie.

Deutlich treten die Unterschiede in der Parteiorganisation etwa bei Wahlkämpfen zutage. Während deutsche Parteizentralen aktiv in Wahlkämpfe eingebunden sind, organisieren Kandidaten ihre Wahlkämpfe in den Vereinigten Staaten weitgehend unabhängig von der Partei – so auch bei den aktuellen Vorwahlen um die Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst. Bei den Vorwahlen steht jeder Kandidat vor der enormen Herausforderung, eine Organisation in der Fläche aufzubauen und freiwillige Helfer für die Durchführung der eigenen Kampagne zu finden. Nicht zuletzt müssen finanzkräftige Spender überzeugt werden, um die kostspieligen Kampagnen zu finanzieren, die in der aktuellen Vorwahlperiode für viele der Kandidaten über 100 Millionen US-Dollar gekostet haben.

Die Parteizentralen spielen bei den Vorwahlen eher die Funktion eines Schiedsrichters. Das heißt jedoch nicht, dass die Parteien in diesem Prozess bedeutungslos sind. Zum einen klaffen Theorie und Praxis bisweilen auseinander. So stand insbesondere bei den demokratischen Vorwahlen des Jahres 2016 der Vorwurf im Raum, dass die Parteiorganisation hinter den Kulissen den „Daumen auf der Waage“ habe, um Hillary Clinton zur Kandidatur zu verhelfen. Dabei werden freilich nicht alle Eingriffe des Partei-Establishments als unzulässig betrachtet. So spielen Unterstützungsbekundungen durch einflussreiche Parteivertreter, die sogenannten Endorsements, in den USA eine viel größere Rolle als in Deutschland. Bei den auf Personen zugeschnittenen Wahlen und vor allem bei den Vorwahlen ist es für Wähler eine enorme Herausforderung, sich eine Meinung über die zahlreichen Bewerber um die verschiedenen Ämter zu bilden, da das Parteilabel als einfache Wahlheuristik entfällt. In einer solchen Situation kann die öffentliche Unterstützung durch bekannte Parteivertreter dem Wähler wichtige Hinweise über das Profil der Bewerber bieten.

Selbstverständlich handelt es sich bei solchen Unterstützungsbekundungen nicht um ein originäres Handeln von Parteiorganisationen, sondern vielmehr um das Handeln von Individuen, die mehr oder weniger stark in die Parteiorganisationen eingebunden sind. Doch auch in ihrer Funktion als Schiedsrichter treffen die Parteizentralen mitunter Entscheidungen, die über den Erfolg oder Misserfolg einer Kandidatur entscheiden können. Offensichtlich bedeutsam sind die Verfahren zur Bestimmung der Delegierten für den Nominierungsparteitag im Spätsommer 2020, die in der demokratischen Partei seit der Präsidentschaftswahl 2016 in zentralen Punkten reformiert wurden und die in einem anderen Beitrag auf diesem Blog beschrieben werden.

Weniger sichtbar, aber womöglich noch folgenreicher für den diesjährigen Vorwahlkampf in der demokratischen Partei war das Regelwerk zur Teilnahme an den zwölf offiziellen TV-Duellen, von denen elf zwischen Juni 2019 und März 2020 durchgeführt wurden. Das zwölfte Duell wurde wegen der Corona-Krise abgesagt. Aufgrund des außerordentlich breiten Bewerberfeldes wurden von der Parteiführung Regeln verabschiedet und kontinuierlich verschärft, um die Teilnahme an den Duellen auf die aussichtsreichsten Bewerber zu beschränken und das Bewerberfeld im Laufe der Zeit weiter zu verengen. Gerade in der Anfangsphase des Vorwahlkampfs waren die TV-Duelle für viele der weitgehend unbekannten Bewerber entscheidend, um sich den Wählern vertraut zu machen. So hätte die fehlende Qualifizierung für die Duellteilnahme das sichere Ende der meisten Kampagnen bedeutet, die vor allem zu Beginn noch über eine wenig ausgebaute Organisation verfügten und mit Debattenerfolgen mögliche Spender von sich überzeugen wollten. Die Bedeutung der Duelle lässt sich nicht zuletzt an der lautstarken Kritik ablesen, die von den nicht-qualifizierten Bewerbern am Regelwerk der demokratischen Partei geäußert wurden.

Eine Übersicht der Qualifizierungsregeln für die ersten zehn TV-Duelle der demokratischen Partei bietet Tabelle 1. Konkret wurden von der Partei zwei Kriterien angelegt. Das Umfrageergebnis in einer vorgegebenen Liste von Umfrageinstituten und die Fähigkeit der Kandidaten, eine breite Spenderbasis anzuziehen. In beiden Kriterien drückt sich der Wille der Parteiführung aus, das Bewerberfeld nach den ersten Debatten zügig zu begrenzen und nur noch aussichtsreiche Kandidaten zu den Duellen zuzulassen. Während die beiden ersten Duelle noch über zwei Abende verteilt mit je zehn Kandidaten ausgestrahlt wurden, hat besonders das Umfragekriterium die Liste der Qualifizierten ab der dritten Debatte sichtlich verringert. Die elfte Debatte am 15. März 2020 stand bereits im Schatten der Corona-Krise. Sie wurde aufgrund des Rückzugs der meisten Kandidaten nur noch zwischen Joe Biden und Bernie Sanders in einem Saal ohne Publikum durchgeführt. Formales Teilnahmekriterium für diese Debatte wären mindestens 20 gewonnene Delegierte für den Nominierungsparteitag aus den bereits durchgeführten Vorwahlen gewesen, was neben Biden und Sanders zumindest noch Mike Bloomberg, Pete Buttigieg und Elizabeth Warren erreicht hätten.

 

Tabelle 1: Teilnahmekriterien für die ersten zehn offiziellen TV-Duelle

Bemerkung: (1) Nationaler Mittelwert; (2) In den vier ersten Vorwahl-Bundesstaaten (Iowa/New Hampshire/Nevada/South Carolina); ab dem achten Duell war die Qualifikation auch über errungene Delegierte aus den bereits durchgeführten Vorwahlen möglich; bei der zweiten Debatte wurden weitere Regeln angewendet, um das Bewerberfeld auf maximal 20 zu begrenzen.

Zusammenfassend kann also ohne Zweifel von einer schwachen außerparlamentarischen Parteiorganisation gesprochen werden. Neben der Auslagerung des Wahlkampfes auf die Bewerber wird diese Schwäche ebenso deutlich in der Kandidatenauswahl. So bestimmen bei den Vorwahlen die Bürger über die Parteibewerber – die Parteien können also nicht einmal über ihre eigenen Vertreter entscheiden. Dabei ist die Teilnahmeberechtigung an den Vorwahlen sehr weit gefasst und in manchen Bundesstaaten darf gar jeder Wähler über die Parteikandidaturen entscheiden, wie wir in einem anderen Beitrag für diesen Blog darlegen werden. Dennoch können die Parteiorganisationen in ihrer Funktion als Schiedsrichter punktuell erheblichen Einfluss entwickeln, indem sie die Regeln des Wettbewerbs bestimmen. Manche Beobachter sind gar der Meinung, dass das Democratic National Committee, die demokratische Parteiführung, bei der Vorwahl 2020 aufgrund des unübersichtlichen Bewerberfeldes durch ihre Fähigkeit zur Regelsetzung einen größeren Einfluss hatte als noch bei der Vorwahl 2016.


Biographischer Hinweis zum Gastautor

Dominic Nyhuis ist DAAD Visiting Assistant Professor am Department of Political Science und am Center for European Studies an der University of North Carolina at Chapel Hill. Zuvor war er Akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. In seiner Forschung beschäftigt er sich aus vergleichender Perspektive mit Parteien, Parlamenten und der subnationalen Politik. In seinem jüngsten DFG-geförderten Forschungsprojekt „Repräsentation und Ungleichheit in der kommunalen Politik“ untersucht er die Muster der Politikgestaltung in deutschen Großstädten in Kooperation mit der LMU München. Weitere Informationen zum Projekt bietet https://www.localpolitics.gsi.uni-muenchen.de/index.html.