Eine Gesellschaft ohne Netz und doppelten Boden – Zur Krise im Gesundheitssystem der USA
von Prof. Dr. Christiane Lemke und Jakob Wiedekind, M.A.:
Fast 2.000 Menschen sind an nur einem Tag (07. April) in den USA nach einer Infektion mit dem Coronavirus (Sars-CoV-2) und den damit einhergehenden Folgen der Covid-19 Erkrankung gestorben. Wie die Johns-Hopkins-Universität angab, war dies der bisher höchste Anstieg innerhalb eines Tages seit Beginn der Krise. Die Zahl der bekannten Infektionen lag laut Angaben des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zufolge bei 374.329; insgesamt 12.064 Menschen sind bislang an der Infektion gestorben. Angesichts der rasant steigenden Fallzahlen in den USA und der überaus großen Anstrengungen der Ärzte, Pflege- und Rettungskräfte in allen Landesteilen – und vor allem in den Brennpunkten New York, New Orleans, und Detroit – aber auch vor dem Hintergrund der zahlreichen Klagen von Gouverneuren über mangelnde Ausrüstung mit Schutzkleidung, fehlende Atemmasken und überforderte Testeinrichtungen wird eines immer deutlicher: das Gesundheitssystem der USA weist tiefgreifende strukturelle Defizite auf, die bereits seit längerem bestehen, nun aber durch diesen Stresstest besonders deutlich hervortreten. In den Wahlkämpfen der letzten Jahre war die Gesundheitspolitik immer wieder ein Zankapfel zwischen Republikanern und Demokraten gewesen – so auch in diesem Jahr. Während die Demokraten einen Ausbau der allgemeinen Krankenversicherung befürworten, lehnen die Republikaner insbesondere die durch Obamacare eingeführten Reformen vehement ab. Präsident Trump hat einen weiteren Ausbau der staatlichen Gesundheitsversorgung immer wieder als „Sozialismus“ verteufelt; er befürwortet einen strikt privatwirtschaftlich basierten Umbau des Gesundheitswesens und lehnt bundesstaatliche Verantwortung für die Krankenversicherung grundsätzlich ab.
Während sich in anderen westlichen Ländern der Gedanken einer allgemeinen Krankenversicherung im 20. Jahrhundert immer weiter durchsetzen konnte, sind die USA das einzige OECD-Land, in dem es bis vor kurzem keine allgemeine Krankenversicherung gab; dies führte nicht nur zu einer hohen Zahl an Nicht-Versicherten, sondern auch zu sehr hohen Kosten im Gesundheitswesen, die durch die starke Inanspruchnahme der Notaufnahmen, die grassierenden chronischen Krankheiten mit schweren Folgewirkungen und die durch marktwirtschaftliche Mechanismen hochgeschraubten Kosten für Medikamente und ärztliche Leistungen weiter steigen. Die intensive Lobbyarbeit der führenden Medikamentenhersteller wie etwa Gilead, Pfizer, Merck oder Johnson & Johnson wird in diesem Kontext immer wieder auch im Kongress kontrovers diskutiert. So berichtet CNN unter Berufung auf das Forschungsnetzwerk „Open Secrets“, dass die Lobbygruppe der Pharmaindustrie in den USA, die „Pharmaceutical Research & Manufacturer of America“ oder kurz: PhRMA, 2018 allein 27,5 Millionen USD für ihre Lobbyarbeit ausgab und so unter Anderem Kritik an überteuerten Medikamenten im Keim zu ersticken versucht.
Mit der großen Gesundheitsreform während der Obama-Administration, dem Affordable Care Act von 2010, der eine Verpflichtung zur Krankenversicherung vorsieht, ging die hohe Zahl der Nicht-Versicherten von fast 50 Millionen langsam zurück auf 27,5 Millionen (2018). Das Gesetz sieht vor, dass sich diejenigen, die nicht über ihren Arbeitgeber versichert sind oder keine der staatlichen Versicherungen wie Medicare (für Senioren) oder Medicaid (für Bedürftige) in Anspruch nehmen können, eine Versicherung auf einem neuen Versicherungsmarkt kaufen müssen, den die Bundesstaaten zu günstigeren Konditionen einrichten, als dies die marktwirtschaftlich aufgestellten Privatkrankenversicherungen tun. Auch sollte niemand aufgrund einer Vorerkrankung von dieser staatlichen Versicherung ausgeschlossen werden. Wer sich dennoch nicht versicherte, musste einen steuerlichen Ausgleich zahlen; diese Regelung hat die Trump-Administration jedoch mit der Steuerreform von 2018 wieder aufgehoben und eine tragende Säule von Obamacare unterminiert.
Anders als in europäischen Ländern ist die Krankenversicherung in den USA an den Markt geknüpft; der Gedanke einer Solidargemeinschaft, die dem Gesundheitswesen europäischer Länder zugrunde liegt, fehlt in den USA. Die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner sind heute über ihren Arbeitgeber versichert (55 %), die staatliche Versicherung, also Medicare oder Medicaid, nehmen 34 % in Anspruch, direkte Privatversicherungen 7,5 %, von Bundesstaaten eingerichtete Versicherungen nach Obamacare 3,3; rund 8 % der Bevölkerung hat gar keine Krankenversicherung. Obwohl die medizinische Forschung, Präventions-Medizin und Diagnostik ausgezeichnet entwickelt sind, führt der ungleiche Zugang zum Gesundheitssystem jedoch zu gravierenden Folgewirkungen. So geht bei einem Arbeitsplatzverlust auch die Versicherung verloren, weshalb die derzeit rasch steigende Arbeitslosigkeit im Zuge der Corona-Krise nicht nur zu unmittelbaren Einkommensverlusten führt, sondern auch den Verlust der so wichtigen Krankenversicherung mit sich bringt. Allein im März 2020 meldeten sich 10 Millionen Beschäftigte arbeitslos – Tendenz steigend. Hinzu kommt, dass es nicht selbstverständlich ist, im Krankheitsfall weiter bezahlt zu werden. Während sich die Lohnfortzahlung im öffentlichen Sektor weitgehend durchgesetzt hat, trifft dies für die Privatwirtschaft nicht zu, wo dieses Recht in der Regel nur die Besserverdienenden haben. In der untersten Einkommensschicht hat lediglich ein Drittel der Beschäftigten die Möglichkeit eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu beziehen.
Die aktuelle Krisenlage wirft folgerichtig ein Schlaglicht auf krasse Unterschiede im Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäusern sowie auf den allgemeinen Gesundheitszustand der amerikanischen Bevölkerung. Zwar gibt es beispielsweise (noch) keine nationalen Statistiken über die ethnischen Unterschiede in der Infektion und der Sterberate an Covid-19; etliche Städte und Bundesstaaten haben jedoch alarmierende Daten veröffentlicht. Im Bundesstaat Illinois sind beispielsweise 43 Prozent der bislang an Covid-19 Verstorbenen sowie 28 Prozent der positiv getesteten Personen Afro-Amerikaner/innen, obwohl sie nur 15 Prozent der Gesamtbevölkerung des Bundesstaates ausmachen. In Michigan sind ein Drittel der positiv getesteten Personen und 40 Prozent der Verstorbenen Afro-Amerikaner/innen, obwohl sie nur 14 Prozent der Bevölkerung stellen. Auffällige Missverhältnisse werden auch aus anderen Bundesstaaten gemeldet; etwa in Louisiana, wo 70 Prozent der an Covid-19 Verstorbenen Afro-Amerikaner/innen sind, obwohl sie dort nur ein Drittel der Bevölkerung stellen. Ähnlich schockierende Statistiken über die überproportional hohe Betroffenheit der Afro-Amerikaner/innen werden auch aus North und South Carolina gemeldet.
Die Gründe liegen zum einen an der Job-Struktur. Nur wenige Afro-Amerikaner/innen arbeiten in Branchen, die gut bezahlt sind und/oder Home-Office ermöglichen; überdurchschnittlich häufig sind sie in den geringer bezahlten Bereichen, in Supermärkten, im Baugewerbe, der Stadtreinigung sowie in Pflege- und Krankeneinrichtungen beschäftigt, die während der Krise keine Tätigkeit von zuhause ermöglichen. Die Arbeitsverträge von schlechter bezahlten Tätigkeiten beinhalten zudem nur selten eine umfassende Krankenversicherung; sie liegen aber häufig über der Einkommensgrenze, die einen Zugang zum staatlichen Medicaid-Programm erlauben würde. Bereits vor der Pandemie war zudem immer wieder auf die höhere Rate an Vorerkrankungen, wie Diabetes, Bluthochdruck oder chronische Krankheiten hingewiesen worden, die zu der niedrigeren durchschnittlichen Lebenserwartung der afro-amerikanischen Bevölkerung führte. Diese Faktoren, zusätzlich zu den sozio-ökonomischen Lebensumständen, bedingen offenbar heute auch die höhere Sterberate an Covid-19 in dieser Bevölkerungsgruppe.
Zwar ist man in den USA der weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen arm und reich gegenüber weniger besorgt, als dies in den europäischen Ländern der Fall ist. Die aktuelle Krise verschärft diese Gegensätze jedoch nicht nur, sondern hebt sie vielen Amerikanern/innen erst richtig ins Bewusstsein. Inzwischen betrachtet eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die durch Covid-19 hervorgerufene Herausforderung nicht nur als schwere Krise für die persönliche finanzielle Situation sowie für die allgemeine Gesundheit; in einer neuen Pew Research Studie nehmen immerhin zwei Drittel an, dass die USA in der Folge auch von einer tiefen wirtschaftlichen Rezession heimgesucht wird. Diese Wahrnehmung hat auch politische Konsequenzen. Zwar ist die allgemeine Zustimmungsrate zur Amtsführung von Donald Trump von 40 Prozent im Januar auf etwa 45 Prozent Ende März 2020 gestiegen, aber bezüglich des Umgangs mit der jetzigen Krise meinen weniger als die Hälfte (48 Prozent), dass er einen sehr guten Job mache; bei den Republikanern sind dies 83 Prozent, bei den Demokraten nur 18 Prozent.
Die weiterführende Frage ist daher, wie viel Ungleichheit man in Zukunft und damit post-Corona zulassen will und wo der (Bundes-)Staat doch stärker gefordert ist, um nicht nur die Ungleichheit der Lebensverhältnisse abzumildern, sondern auch um in der Krisenprävention und ihrer Bewältigung eine stärker gestaltende und koordinierende Rolle einzunehmen. Die von den Demokraten und Joe Biden, dem demokratischen Herausforderer von Donald Trump, im Wahlkampf geforderte Verbesserung des Gesundheitssystems und der allgemeinen Krankenversicherung ist mit der Krise wieder hochaktuell geworden. Der kürzliche Rückzug von Bernie Sanders führt zwar dazu, dass einer der prominentesten Befürworter allgemeiner Krankenversicherung nun aus dem Rennen ausgeschieden ist. Mit Blick auf die aktuelle Krise und unter Berücksichtigung der weiterhin sehr aktiven Unterstützer des progressiven Senators aus Vermont ist aber anzunehmen, dass das Gesundheitswesen und der Umgang mit den Folgen der Corona-Pandemie sehr dominante Themen im Zweikampf zwischen Joe Biden und Donald Trump um das Weiße Haus sein werden.