Der Angriff auf die Demokratie
von Prof. Dr. Christiane Lemke und Jakob Wiedekind, M.A.: (Lesezeit: ca. 5 Minuten)
Die Anerkennung von demokratischen Wahlergebnissen und die Gewährleistung friedlicher Machtwechsel sind zentrale Säulen einer funktionierenden Demokratie. Die Folgen von Trumps Worten und Handlungen haben sich am 6. Januar, als ein Mob von einigen Hundert Trump-Anhängern*innen das Kapitol in Washington D.C. stürmte, offenbart und zeigen, dass die demokratische Ordnung in der offenen Gesellschaft verletzlich ist. Wenn demokratische Normen zugunsten von kurzsichtigen politischen Erfolgen unterlaufen werden, wenn Amtsinhaber gesellschaftliche Gräben nicht heilen, sondern sie vertiefen, und wenn Radikalisierung vor Deliberation gestellt wird, entsteht ein Umfeld, in dem demokratische Schranken gegen Extremismus und Despotie zu fallen beginnen. Jenes Umfeld wurde von Trump in den letzten fünf Jahren vorsätzlich bestärkt und für politische Zwecke instrumentalisiert.
Die Ereignisse vom 6. Januar sind die Spitze einer fünfjährigen Eskalation, die von Trump angeführt wurde und vor der Politikwissenschaftler*innen seit Trumps Kandidatur 2015 warnen. Sie sind die Ernte des von Trump gesäten Misstrauens an den Grundfesten der Demokratie. Sie sind ein Angriff auf das Zentrum der amerikanischen Demokratie und müssen auf das Schärfste verurteilt werden. Die schockierenden Bilder einer aufgehetzten Menschenansammlung, die sich gewaltsam Zugang zu den Sitzungssälen des Kongresses verschaffte und so dafür sorgte, dass die Auszählung der Stimmen des electoral college pausiert werden musste, sind das Resultat einer Amtszeit, in der Trump vorsätzlich Emotionen von Hass und Wut schürte. Wir sehen das Ergebnis von rechtspopulistischem Extremismus, der eine verblendete Minderheit in ihrer verzerrten Realitätswahrnehmung bestärkt.
Zuletzt wurde dies in Trumps Versuchen deutlich, seine Wahlniederlage in einen Sieg umzukehren, indem er die Legitimität des Wahlverfahrens in umkämpften Bundesstaaten auch dann noch anzweifelte, als eindeutige Ergebnisse vorlagen. Er befeuerte haltlose und oftmals verschwörungstheoretische Anschuldigungen von weitreichendem Wahlbetrug, strengte aussichtslose Klagen im Nachgang der Wahl an, setzte Offizielle unter Druck – wie zuletzt im Bundesstaat Georgia, in dem er den Secretary of State Brad Raffensperger dazu aufforderte, den Wahlausgang zu seinen Gunsten zu manipulieren – und rief seine Anhänger*innen dazu auf, das vermeintliche Stehlen der Wahl aufzuhalten. Diese Botschaft teilte er erneut am 6. Januar während einer Rede vor seinen Anhängern*innen in Washington D.C., was schließlich eine schreckliche Spirale der Gewalt in Gang setzte und in der Erstürmung des Kongressgebäudes gipfelte.
Eine Ansammlung von gewaltbereiten und von Trump angestachelten Randalierern*innen verschaffte sich gewaltsam Zugang in das Kapitol – dem Amtssitz der beiden Kammern des Kongresses, die zu der Zeit dabei waren, die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris zu bestätigen. Die Abgeordneten mussten evakuiert werden und erst nach einigen Stunden gelang es den Ordnungskräften, das Gebäude zu räumen. Die internationale Gemeinschaft reagierte schockiert auf die Bilder aus Washington D.C. und verurteilte diesen Angriff auf die Demokratie scharf.
Nach aufwühlenden Stunden konnten die Kongressmitglieder allerdings sicher in die beiden Kammern des Kongresses zurückkehren und schließlich wurde der Wahlausgang durch die Auszählung der Stimmen aus dem electoral college im Kongress zertifiziert. Neben den schockierenden Szenen und Bildern, die um die Welt gingen, darf nicht übersehen werden, dass zahlreiche Abgeordnete der Republikanischen Partei Trumps gefährliche Versuche unterstützten, Zweifel an den Wahlergebnissen zu streuen und bereits im Vorlauf des 6. Januars angaben, bei den Abstimmungen zur Bestätigung knapper Wahlergebnisse in einigen umkämpften Bundesstaaten Einspruch zu erheben. Zwar ruderten nach der Erstürmung des Kongresses zahlreiche Senatoren*innen und Mitglieder des Repräsentantenhauses zurück, aber mit Blick auf die gesamte Amtszeit von Trump war ein Großteil der Republikanischen Partei oft entweder stiller Beobachter oder offener Unterstützer für Trumps Rhetorik und stellte sich in der legislativen Arbeit regelmäßig hinter seine Politik. Ob es den Republikanern im Anschluss an Trumps bevorstehenden Abschied aus dem Weißen Haus schnell gelingt, sich aus der Verstrickung mit Trumps polarisierender Verzerrung des Konservatismus zu befreien, darf angesichts der breiten Unterstützung, die er von Republikanischen Wählern*innen und ihren Repräsentanten*innen erfuhr, angezweifelt werden. Eine Umfrage von YouGov unter über 1.000 registrierten Wählern*innen ergab kürzlich, dass 45% der Befragten, die sich als Republikaner identifizieren würden, die Erstürmung des Kongresses für richtig halten. Bis kurz vor den Ausschreitungen stellten sich 14 Republikanische Senatoren*innen und über 100 Republikanische Mitglieder des Repräsentantenhauses hinter Trumps Versuch, die Wahlergebnisse anzufechten, was über den bevorstehen Machtwechsel hinaus auf eine Spaltung der Republikaner hindeutet, obwohl die politischen Konsequenzen nach vier Jahren Trump für sie durchweg ernüchternd sind: Sie haben das Weiße Haus sowie die Mehrheit im Senat an die Demokraten verloren und bleiben auch im Repräsentantenhaus in der Minderheit.
Die Veränderung der Machtverhältnisse im Senat, der zum Beispiel im bevorstehenden Nominierungsprozess für Bidens Kabinett eine entscheidende Rolle spielt, ist durch die beiden Stichwahlen im US-Bundesstaat Georgia vom 5. Januar möglich geworden. Die Demokratischen Herausforderer Jon Ossoff und Raphael Warnock errungen knappe Siege gegen die Republikanischen Amtsinhaber*innen David Perdue und Kelly Loeffler. Damit haben sowohl die Demokraten als auch die Republikaner 50 der 100 Sitze im Senat. In dieser seltenen Konstellation haben die Demokraten einen Vorteil, weil im Falle eines Gleichstands der abgegebenen Stimmen die alsbald vereidigte Demokratische Vizepräsidentin Kamala Harris in ihrer Funktion als Präsidentin des Senats mit ihrer Stimme die Pattsituation bricht. Deshalb werden die Demokraten die Kontrolle über den Senat übernehmen, was neben den erwähnten Vorteilen bei Nominierungen auch wichtig für die legislative Arbeit ist, weil die Mehrheitspartei starke Kontrollinstrumente mit Blick auf die Agenda und die Ausschüsse innehat. Für die Demokraten war es also ein durchaus erfolgreicher Wahlzyklus und trotz aller Störfeuer von Trump wird Joe Biden am 20. Januar 2021 als 46. Präsident vereidigt werden und seine stark antizipierte Antrittsrede halten. Damit wird ein weiteres Zeichen dahingehend gesetzt, dass die Demokratie in den USA zwar unter Trump stark gelitten hat und offen angegriffen wurde, sie aber dennoch funktioniert. Trumps Klagen scheiterten in nahezu allen Gerichten, die Wahlen erfreuten sich trotz der Pandemie extrem hoher Beteiligung und ihr Ergebnis wurde im electoral college wie auch im Kongress bestätigt. Eine Rückkehr zu etwas mehr Normalität ist unter Bidens Präsidentschaft durchaus möglich.
Mit den Ausschreitungen vom 6. Januar endet Trumps Präsidentschaft so wie sie sich in den letzten vier Jahren konsequent präsentiert hat: dem Eigennutz blind verpflichtet, polarisierend und regelbrechend. Dass die Ordnungskräfte trotz einer gewissen Vorhersehbarkeit der Gewaltbereitschaft personell unterbesetzt waren, um den Mob aufhalten zu können, während hochbewaffnete Polizeikräfte die Stufen des Kapitols absicherten, als die friedliche Black-Lives-Matter-Bewegung in der Hauptstadt vor einigen Monaten gegen Rassismus protestierte, wirft ein besonders kritisches Licht auf die Leitmotive von Bedrohungseinschätzungen. Die Erstürmung des Kapitols offenbarte einen Blick in den Abgrund, der sich auftut, wenn gewählte Repräsentanten*innen ihre Verpflichtung zur Aufrechterhaltung demokratischer Prinzipien hintergehen und nur egoistische Machtinteressen verfolgen. Die Ereignisse des 6. Januars markieren einen Aufruf an alle demokratisch organisierten Gesellschaften, Tag für Tag und Wahl für Wahl die Normen der Demokratie zu verteidigen. Dazu gehört insbesondere der Respekt vor politischen Kontrahenten*innen, der in den USA an vielen Stellen erst wieder neu gelernt werden muss.