Die Kandidatenauswahl der demokratischen Partei
Eine der Kernaufgaben von Parteien ist die Bestimmung von Funktionsträgern für politische Ämter. An keiner Stelle werden die Unterschiede zwischen der Parteiorganisation in Deutschland und den USA deutlicher als bei der Kandidatenauswahl. Um diese Unterschiede darzulegen, wollen wir uns in diesem Beitrag mit den Mechanismen der Kandidatenauswahl in den USA beschäftigen. Dabei legen wir einen Schwerpunkt auf die Regeln, die 2020 von der demokratischen Partei für die Auswahl des Präsidentschaftskandidaten verwendet werden. Die republikanische Partei wird nicht berücksichtigt, da die Vorwahl aufgrund der erneuten Kandidatur des Amtsinhabers Trump weniger interessant ist. Grundsätzlich gilt aber, dass die Verfahren der beiden Parteien – nicht zuletzt aufgrund der weitreichenden staatlichen Vorgaben – in vielen Punkten vergleichbar sind.
Der vermutlich wichtigste Unterschied zwischen Deutschland und den USA ist der Grad der staatlichen Regulierung der Kandidatenauswahl. Während die Kandidatenauswahl zwar auch in Deutschland bestimmten rechtlichen Grundsätzen genügen muss, ist der Auswahlprozess in Deutschland dennoch ein rein innerparteilicher. Im Gegensatz dazu ist die Kandidatenauswahl in den Vereinigten Staaten viel stärker reglementiert und wird in den meisten Bundesstaaten auch von staatlicher Stelle durchgeführt.
Das spezifische Verfahren für die Auswahl der Präsidentschaftskandidaten ist überraschend komplex. So werden im Rahmen von bundesstaatlich organisierten Wahlen Delegierte für den Nominierungsparteitag bestimmt, die dort formal den Kandidaten wählen. Diese sogenannten gebundenen Delegierten repräsentieren die Kandidaten entsprechend ihres relativen Wahlergebnisses auf dem Parteitag. Hier kommt also ein für die USA eher untypisches, nämlich proportionales Wahlsystem zum Einsatz. Dabei wird eine vergleichsweise hohe Ausschlusshürde von 15 Prozent angelegt, um einer zu starken Zersplitterung der Delegiertenstimmen entgegenzuwirken. Wie viele Delegierte in den einzelnen Bundesstaaten gewonnen werden können, ergibt sich aus dem Wahlergebnis der demokratischen Bewerber bei vorangegangenen Wahlen sowie der Zahl der Wahlmänner bei den Präsidentschaftswahlen.
Zu den rund 4,000 gebundenen Delegierten kommen noch etwa 800 ungebundene Superdelegierte, die sich aus hochrangigen Funktionsträgern der Partei zusammensetzen. Über die Superdelegierten hat es in der demokratischen Partei in den vergangenen Jahren viel Missmut gegeben. Ein bekannter Vorwurf lautet, dass die Superdelegierten die Kandidatur bei einem knappen Ausgang der Vorwahlen dem Kandidaten des Partei-Establishments zuschustern können. Besonders in der Auseinandersetzung zwischen Hillary Clinton und Bernie Sanders bei der Vorwahl 2016 stand dieser Vorwurf im Raum. Und tatsächlich hat Clinton bei der damaligen Vorwahl zwar sowohl die Stimmenmehrheit als auch die Mehrheit der gebundenen Delegierten auf sich vereinen können. Die notwendige Mehrheit auf dem Nominierungsparteitag konnte sie aber nur mithilfe der Superdelegierten erreichen, die sich zu über 90 Prozent für Clinton entschieden. Vor dem Hintergrund dieser Kritik wurden verschiedene Reformen des Wahlverfahrens für den Nominierungsparteitag umgesetzt und die Superdelegierten sind im ersten Wahlgang auf dem Parteitag nicht mehr wahlberechtigt.
Ein interessantes Merkmal der Vorwahlen für die Präsidentschaftskandidatur ist die große Vielfalt der Verfahren, die auf der bundesstaatlichen Ebene eingesetzt werden, um die gebundenen Delegierten für den Nominierungsparteitag zu bestimmen – von der fast schon grotesk langen Zeitspanne zwischen dem ersten Wahlgang (am 3. Februar 2020 in Iowa) und dem letzten (voraussichtlich am 7. Juli 2020 in New Jersey) ganz zu schweigen. Für den Rest dieses Beitrags sollen die Verfahren klassifiziert werden, die in den Bundesstaaten zur Anwendung kommen. Zur Klassifizierung werden drei Dimensionen in den Blick genommen, die für die Charakterisierung von Wahlsystemen entscheidend sind: Welches Wahlsystem kommt zur Anwendung, wer ist wahlberechtigt und wer darf kandidieren? Für die Kategorisierung beschränken wir uns auf die 50 Bundesstaaten. Nicht berücksichtigt werden also Wahlberechtigte, die in den amerikanischen Territorien wie Puerto Rico abstimmen.
Die wichtigste Unterscheidungsdimension betrifft zunächst die Frage, ob die gebundenen Delegierten im Rahmen einer Versammlung (Caucus) oder im Rahmen einer Wahl (Primary) bestimmt werden. Die Wahl ist der trivialere der beiden Fälle, bei der die Wähler den bevorzugten Kandidaten im Wahllokal bestimmen. Immerhin vier Bundesstaaten erlauben den Wählern die Präferenzreihung der Kandidaten (Alaska, Hawaii, Kansas und Wyoming). Aufgrund der vergleichsweise hohen Ausschlusshürde von 15 Prozent kann mit einem solchen Verfahren verhindert werden, dass Wähler ihre Stimme strategisch abgeben müssen, um eine „verschwendete“ Stimme zu vermeiden. Mit anderen Worten müssen Wähler sich vor der Stimmabgabe nicht überlegen, ob ihr bevorzugter Kandidat einen Stimmenanteil von 15 Prozent erreichen kann und, falls nein, ob sie ihre Stimme lieber der Zweitpräferenz geben möchten. Bei der Präferenzreihung werden zunächst die Erstpräferenzen auf den Stimmzetteln ausgewertet, um nach und nach diejenigen Kandidaten auszuschließen, die unterhalb der Zuteilungsschwelle liegen und die Stimmzettel dieser Kandidaten auf Grundlage der weiteren Präferenzen neu zu verteilen.
Die Versammlungen zur Bestimmung der gebundenen Delegierten sind aus politikwissenschaftlicher Sicht ebenfalls interessant. Dieses Verfahren ist relativ komplex und muss uns hier nicht im Detail beschäftigen. Im Kern verhält es sich bei den Versammlungen so, dass die Wähler sich in ihren Wahllokalen zusammenfinden und die Kandidaten im Rahmen einer Aufstellung bestimmen. Dabei stellen die Wähler sich in einer ersten Wahlrunde zu Gruppen zusammen, die einen bestimmten Kandidaten unterstützen. Am Ende dieser Runde werden die Stimmenanteile der Kandidaten berechnet und die Unterstützer der Kandidaten unterhalb der Zuteilungsschwelle von 15 Prozent können sich in einer zweiten Runde einer anderen Gruppe anschließen. Auf Basis dieser finalen Zuteilung ergeben sich die Stimmenanteile der Kandidaten und mittelbar die Zahl der Delegierten für den Nominierungsparteitag.
Ähnlich wie bei Wahlsystemen mit Präferenzreihung ist ein klarer Vorteil dieses Verfahrens, dass verschwendete Stimmen vermieden werden. Man mag es auch als besonders demokratisch ansehen, dass im Rahmen der Neuzuteilung eine echte Überzeugungsarbeit der freien Wähler durch die bestehenden Gruppen stattfindet. Allerdings können auf diese Weise womöglich Zwänge entstehen und ohnehin darf die öffentliche Stimmabgabe mit Skepsis betrachtet werden.
Im Zuge der Reformen vor den diesjährigen Vorwahlen hat eine erhebliche Abwendung von den Versammlungen hin zu Wahlen stattgefunden. Während 2016 immerhin 14 Bundesstaaten ihre Delegierten mithilfe von Versammlungen bestimmten, waren es 2020 gerade noch 4. Die Motivation für diesen Systemwechsel begründet sich allerdings weniger in den angedeuteten Bedenken einer nicht-geheimen Wahl. Vielmehr liegen ihnen handfeste Überlegungen zugrunde. Bei den Versammlungen handelt es sich wenig überraschend um mehrstündige Veranstaltungen und es ist berechtigt davon auszugehen, dass viele potentielle Wähler kaum bereit sind, einen solchen Aufwand für die Kandidatennominierung zu betreiben. Andererseits mag man durchaus argumentieren, dass die Entscheidung über die Kandidatenaufstellung aus gutem Grund den Wählern vorbehalten bleiben sollte, die ein Mindestmaß an Engagement für die Partei zeigen.
Klar ist, dass die demokratische Partei die Wählerbasis bei den Vorwahlen verbreitern und den Wahlakt erleichtern möchte, weshalb zwischen 2016 und 2020 eine derart deutliche Abwendung von den Versammlungen zu beobachten war. Zugleich wurden auch die Möglichkeiten zur Einbindung von schwer zu erreichenden Wählern erweitert, sei es durch die Einrichtung von Wahlbezirken an Arbeitsstätten, in Altersheimen und ähnlichem sowie in der Ausweitung der Briefwahl. So sehen die beiden Versammlungs-Bundesstaaten Iowa und Nevada alternativ die Möglichkeit einer Briefwahl mit einem Präferenzstimmensystem vor.
Die zweite Dimension zur Klassifizierung der genutzten Wahlverfahren ist die Wahlberechtigung. Auch an diesem Punkt wirken die Regelungen in den USA aus deutscher Sicht etwas kurios. In Deutschland ist es das eindeutige Vorrecht von Parteimitgliedern, über die Kandidaten der eigenen Partei entscheiden zu dürfen. In den USA ist dieses Recht selbst in den restriktivsten Bundesstaaten viel weiter gefasst und tatsächlich ist die Idee einer Parteimitgliedschaft mit Mitgliedsbeiträgen ein sichtlich europäisches Modell. In den USA dagegen können sich Wähler bei der Eintragung ins Wählerverzeichnis zu einer Partei bekennen, was in manchen Bundesstaaten zur Teilnahme an den Vorwahlen berechtigt.
Die Regelungen zur Wahlberechtigung unterscheiden sich zwischen den Bundesstaaten in vielen Detailaspekten, insofern stellt eine Typologisierung nur eine Annäherung an das Wahlrecht in der Praxis dar. Allgemein kann zwischen offenen und geschlossenen Systemen unterschieden werden, mit halb-offenen und halb-geschlossenen Systemen als Mittelkategorien. Entscheidend für die Klassifizierung ist die Frage, ob eine Parteiregistrierung vorausgesetzt wird. An den geschlossenen Vorwahlen können nur registrierte Parteiwähler teilnehmen, während alle Wähler bei den offenen Vorwahlen abstimmen dürfen – also selbst Wähler, die für eine andere Partei registriert sind. Die einzige Beschränkung ist, dass Wähler nicht an mehr als einer Vorwahl teilnehmen. Bei den halb-geschlossenen Vorwahlen wird eine Registrierung zwar vorausgesetzt, allerdings kann diese für unabhängige Wähler auch unmittelbar vor der Wahl geschehen. Bei der halb-offenen Wahl dagegen entfällt eine Registrierung für unabhängige Wähler, während die Abstimmung von registrierten Wählern anderer Parteien ausgeschlossen ist.
Tabelle 1: Wahlberechtigung bei den demokratischen Vorwahlen
Die Häufigkeit der verschiedenen Typen ist in Tabelle 1 dargestellt. Im Vergleich zum Wahlverfahren hat es bei der Wahlberechtigung weniger Änderungen zwischen 2016 und 2020 gegeben. Ein größeres Maß an Stabilität lässt sich zwar auch auf rechtliche Vorgaben zurückführen. Allerdings fallen diese Vorgaben selbstverständlich nicht vom Himmel und die Parteien könnten eine Ausweitung der Wahlberechtigung ja durchaus anstreben. An dieser Stelle wurden also weniger Anstrengungen unternommen, um weitere Teil der Wählerschaft in die Vorwahl einzubinden. Und tatsächlich gibt es zurecht häufig eine gewisse Skepsis gegenüber allzu offenen Wahlsystemen, welche die Kontrolle über die Kandidatennominierung zu sehr aus der Hand der Parteianhänger geben. Theoretisch ist es sogar denkbar, dass die Anhänger der gegnerischen Partei sich bei den offenen Vorwahlen koordinieren, um gezielt einen schwachen Kandidaten zu nominieren.
Doch auch unabhängig von solchen Extremszenarios wird die Schwäche der Parteiorganisationen in den USA nirgendwo deutlicher als in der Frage der Wahlberechtigung. Viel stärker als in Deutschland wird die Entscheidung über Kandidaten aus den Parteien ausgelagert und somit der Kontrolle der Parteien entzogen. Diese Schwäche spiegelt sich schließlich sogar in der Berechtigung zur Kandidatur. Während es sich nur schwer klassifizieren lässt, welche Voraussetzungen ein Kandidat erfüllen muss, um auf dem Vorwahlzettel gelistet zu werden, ist es doch bemerkenswert, dass einer der aussichtsreichsten demokratischen Kandidaten um das Präsidentenamt, nämlich der unabhängige Senator Bernie Sanders, selbst kein registrierter Demokrat ist! Inzwischen hat er seine Kandidatur eingestellt.
Zusammenfassend können zwei Punkte festgehalten werden. Erstens gibt es eine bemerkenswerte Vielfalt an Regelungen, die in den Bundesstaaten zur Bestimmung der Delegierten für den Nominierungsparteitag verwendet werden. Diese Vielfalt überrascht, geht es doch letztlich um die Auswahl eines Kandidaten für ein und dasselbe Amt. Hier wird deutlich, wie viel dezentraler die Vereinigten Staaten auf vielen Ebenen funktionieren als ein vergleichsweise zentralisierter Föderalstaat wie die Bundesrepublik. Der Vergleich zu den vielfältigen Wahlrechtsregelungen zum Europäischen Parlament drängt sich geradezu auf.
Zweitens begründet sich die Schwäche der Parteiorganisationen in den USA vor allen Dingen in der Art, wie Kandidaten für politische Ämter ausgewählt werden. Selbst die restriktivsten Systeme zur Kandidatenauswahl nehmen den Parteien bedeutend mehr Kontrolle als die Systeme in den meisten europäischen Ländern. Parteien geben bei dieser Form der Kandidatenbestimmung ein zentrales Disziplinierungsinstrument aus der Hand, da die Amtsträger nicht auf das Wohlwollen der Parteien bei der (Wieder-)Aufstellung angewiesen sind.
Biographischer Hinweis zum Gastautor:
Dominic Nyhuis ist DAAD Visiting Assistant Professor am Department of Political Science und am Center for European Studies an der University of North Carolina at Chapel Hill. Zuvor war er Akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. In seiner Forschung beschäftigt er sich aus vergleichender Perspektive mit Parteien, Parlamenten und der subnationalen Politik. In seinem jüngsten DFG-geförderten Forschungsprojekt „Repräsentation und Ungleichheit in der kommunalen Politik“ untersucht er die Muster der Politikgestaltung in deutschen Großstädten in Kooperation mit der LMU München. Weitere Informationen zum Projekt bietet https://www.localpolitics.gsi.uni-muenchen.de/index.html.