Zwischen Orakel und Richtungsweisung – Meinungsumfragen im Kontext der Präsidentschaftswahl 2020
von Prof. Dr. Christiane Lemke und Jakob Wiedekind, M.A.: (Lesezeit: ca. 10 Minuten)
Dieses Wahljahr in den USA ist zweifellos einzigartig und turbulent. Die Corona-Pandemie mit all ihren verheerenden Folgen für die amerikanische Wirtschaft wurde zuletzt von den lautstarken Protesten im Anschluss an den Tod von George Floyd im Zuge seiner gewaltsamen Festnahme nahezu überschattet. Polizeigewalt und Rassismus sowie ihre Überwindung sind dominante Wahlkampfthemen geworden und es scheint klar zu sein, dass die beiden Kandidaten recht unterschiedliche Standpunkte einnehmen. Amtsinhaber Donald Trump möchte der „Law and Order“ Kandidat sein – eine Botschaft, die wir nur zu gut von ehemaligen republikanischen Präsidenten wie Richard Nixon und Ronald Reagan kennen, wenngleich schon ein oberflächlicher Vergleich mit diesen beiden republikanischen Präsidenten hinken würde. Auf der anderen Seite solidarisiert sich der Demokrat Joe Biden sehr deutlich mit der friedlichen Protestbewegung, wobei er sich strikt von den gewaltsamen Ausschreitungen und Plünderungen distanziert und diese verurteilt. Unter dem Eindruck der aktuellen Lage sehen die Umfragen zur bevorstehenden Präsidentschaftswahl einen klaren Vorteil für Joe Biden. So zeigen die Ergebnisse einer Umfrage von YouGov unter 1.288 registrierten Wähler/innen, dass sich am 10. Juni 49% für Joe Biden und 40% für Donald Trump entscheiden würden. Dass Umfragen jedoch keine Wahlen gewinnen, hat nicht zuletzt Trumps Sieg 2016 gegen Hillary Clinton gezeigt, die entgegen aller Umfragen die Wahl dennoch verlor. Welche Rolle spielen also die Meinungsumfragen über die Beliebtheit der beiden Kandidaten im Wahljahr? Gibt es historische Erfahrungen über den Zusammenhang zwischen hohen Zustimmungswerten und den Aussichten auf Wahlerfolg und welche Folgerungen lassen sich daraus ziehen? Diesen Fragen wollen wir uns in diesem Blog-Beitrag widmen, wenngleich angesicht der Komplexität dieser Themen kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Zugleich erlaubt unser Beitrag einen kurzen Einblick in die Methodologie der jeweiligen Umfragen.
Bei der Datenerhebung für diesen Beitrag konzentrieren wir uns nur auf solche Umfragen, die exklusiv registrierte Wählerinnen und Wähler befragen und mindestens 1.000 Mitglieder dieser Personengruppe umfassen. Dieses Vorgehen schließt zum Beispiel Umfragen aus, die in ihrem Sample (Gesamtheit aller Befragten) schlicht Volljährigkeit zur Voraussetzung für die Teilnahme an der Befragung machen. Die Wahlbeteiligung bei den letzten fünf Präsidentschaftswahlen schwankte zwischen 51% und 58%, sodass bei einer Befragung, die nur Volljährigkeit und somit Wahlberechtigung zur Voraussetzung macht, begründet vermuten werden muss, dass auch Personen das Ergebnis der Umfrage beeinflussen, die schlussendlich gar nicht wählen gehen. Die Befragung von bereits registrierten Wählern/innen reduziert dieses Problem zwar, kann es aber nicht ganz lösen, da Registrierungen zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen können und eine Registrierung keine tatsächliche Wahlbeteiligung im November garantiert. Um einen Vergleich zwischen den Kandidaten im Zeitverlauf der letzten turbulenten Monate so genau wie möglich zu gestalten, zeigt die Darstellung 1 die Ergebnisse der YouGov-Umfragen von Anfang April bis Mitte Juni. Ab Anfang April wurde zunehmend klar, dass Joe Biden der Kandidat der Demokraten werden würde, was mit dem Rückzug seines letzten parteiinternen Kontrahenten Bernie Sanders am 08.04.20 weitgehend besiegelt wurde. Die Umfragen stellen den Teilnehmenden in der Regel die folgende Frage: „In November, if the Democratic candidate is Joe Biden and the Republican candidate is Donald Trump, who would you vote for?“ Die Antwortmöglichkeiten sind neben der Auswahl einer der beiden genannten Kandidaten die folgenden: „Drittkandidat“, „unentschlossen“ oder „ich werde nicht wählen“. Dieses Vorgehen ist in zahlreichen Befragungen ähnlich, da erst die jeweiligen Nominierungsparteitage im Sommer den entsprechenden Kandidaten offiziell bestimmen.
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten von YouGov (exemplarischer Link für die Umfrageergebnisse vom 11. Juni, S. 218) entnommen aus der Übersicht auf FiveThiryEight.
Darstellung 1 zeigt, dass sich Donald Trumps Umfragewerte (rot) im April und im Mai weitgehend konstant auf einem Niveau gehalten haben. Die weitreichende Kritik an seinem Umgang mit der Corona-Pandemie scheint sich zumindest auf diese Werte kaum ausgewirkt zu haben. Interessant ist auch, dass Joe Biden (blau) konstant vor Donald Trump liegt, mit einem Abstand, der sich zuletzt im Zuge der Unruhen und Proteste nach dem Tod von George Floyd auf 9 Prozentpunkte vergrößert hat. Da das Sample von YouGov verhältnismäßig klein ist (ca. 1.200 registrierte Wähler/innen je Umfrage) können die Daten von Morning Consult mit einer Sample Größe von üblicherweise ca. 31.000 Befragten (ebenfalls nur registrierte Wähler/innen) einen stärkeren Anspruch auf Repräsentativität erheben. Der betrachtete Zeitraum bleibt unverändert. Darstellung 2 erlaubt also einen Einblick in die Umfragewerte der beiden Kandidaten mit breiterem Objektiv.
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Daten von Morning Consult (exemplarischer Link für die Umfrageergebnisse vom 14. Juni) entnommen aus der Übersicht auf FiveThiryEight.
Die zuvor bereits deutlich gewordenen Trends können auch von den breiter angelegten Studien bestätigt werden. Es scheint sich zu zeigen, dass die wirtschaftliche Talfahrt im Zuge der Corona-Pandemie Donald Trump (rot) weit weniger zu schaden vermochte, als es zuletzt die Proteste gegen den Rassismus in den USA getan haben. Gleichwohl könnte es sein, dass sich die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung in den Umfragen bemerkbar machen. Interessant ist auch, dass beide Darstellungen (1&2) Joe Biden (blau) konstant vor Donald Trump sehen – schon vor der Protestwelle, die vorwiegend eine positive Entwicklung für Joe Biden zu begünstigen scheint. Diese beiden Trends – konstante Führung von Joe Biden und die aktuelle Distanz zwischen den beiden Kandidaten – sind für Donald Trump besorgniserregend, da es im historischen Vergleich nach Bill Clinton 1992 keinen stärkeren Herausforderer für den jeweiligen Amtsinhaber gab – gemessen an den entsprechenden Umfragewerten. Ebenfalls gilt es zu berücksichtigen, dass die Zugewinne von Joe Biden insbesondere auf die gewachsene Zustimmung von afroamerikanischen sowie jungen und hispanischen Wählern/innen zurückzuführen sind. Diese Wählergruppen mehrheitlich für sich zu gewinnen und sie zum Gang zur Wahlurne zu motiveren, nimmt eine Schlüsselstellung für den Ausgang der Wahl ein.
Aus den Erfahrungen der vergangenen Präsidentschaftswahlen wissen wir, dass es wichtig ist, nicht nur die Umfragewerte auf der nationalen Ebene auszuwerten, sondern auch auf die Ergebnisse in einzelnen Bundesstaaten zu schauen, da die Mehrheiten in den Bundesstaaten über die Zahl der Wahlmänner und -frauen im Electoral College entscheiden, in dem der Präsident dann letztendlich gewählt wird. Lohnenswert ist ein Blick auf die Swing-States, also solche Staaten, die besonders umkämpft sein werden. Betrachten wir beispielsweise Wisconsin, Michigan und North Carolina, die 2016 noch allesamt von Trump gewonnen werden konnten. Darstellung 3 führt die Ergebnisse der jüngsten Umfragen in diesen drei Bundesstaaten auf; auch hier zeigt sich ein Vorsprung für Joe Biden. Für die folgende Darstellung muss auf unterschiedliche Datenquellen für den jeweiligen Bundesstaat zurückgegriffen werden (vgl. die Quelleangaben). Alle arbeiten aber mit einem Sample, das größer als 700 Befragte ist und die Registrierung zur Wahl oder zumindest die eigene Identifikation als aktiver Wähler/in zur Voraussetzung macht.
Quelle: Michigan: EPIC-MRA Statewide Poll 4. Juni; Wisconsin: FOX-News Poll 2. Juni; North Carolina: Public Policy Polling 3. Juni.
Darstellung 3 unterstreicht, dass Joe Biden (blau) in den Umfragen einen erkennbaren Vorteil gegenüber Donald Trump in den umkämpften Bundesstaaten hat. Besonders auffällig sind hier Michigan und Wisconsin, die eine besonders klare Tendenz anzeigen. Hier ließe sich begründet vermuten, dass ein Teil der Wähler/innen eine Diskrepanz zwischen Trumps Versprechen aus 2016 und ihren aktuellen Lebensrealitäten im Zeichen einer deutlich schwächelnden Wirtschaft sehen. Die vergleichsweise starke Unterstützung für Biden in diesen beiden Bundesstaaten könnte also zumindest teilweise in wachsender Unzufriedenheit mit Trumps Amtsführung begründet sein. Schlussendlich ist die Kernbotschaft der drei Darstellungen (1-3) eindeutig: Vorteil Biden.
Allerdings könnte sich dieser Befund als trügerisch erweisen, nicht nur weil es noch ein weiter Weg bis November ist, sondern auch weil letztendlich die Mobilisierung der Unterstützerinnen und Unterstützer bei der Wahl entscheidend ist. Einen Hinweis über das Mobilisierungspotenzial können Meinungsumfragen zur Beliebheit von Kandidaten geben – losgelöst von der Wahl am 3. November. Hier liefert das Forschungsinstitut Civiqs interessante Umfrageergebnisse. Eine jüngste Online-Umfrage unter registrierten Wähler/innen zeigt, dass nur 39% der Befragten eine positive und 53% eine bewusst negative Meinung von Joe Biden haben. Für Donald Trump ergibt die Umfrage, dass 43% der Befragten eine positive und 55% eine negative Meinung von ihm haben. Wenn es nun darum geht, noch unentschlossene Wähler/innen zur Teilnahme an der Wahl zu bewegen, scheint Bidens niedrigere Beliebtheit zumindest nicht förderlich in diesem Sinne zu sein. Allerdings ist es schon interessant, dass der Herausforderer Joe Biden trotz deutlicher Schwierigkeiten bezüglich der eigenen Beliebtheit aktuell einen komfortablen Vorsprung in zahlreichen Umfragen hat – bundesweit und in drei entscheidenden Swing-States. Im direkten Vergleich mit Trump scheinen Biden die niedrigen Beliebtheitswerte tatsächlich wenig zu schaden. Zudem ist Biden unter den demokratischen Wählern/innen recht beliebt. Betrachten wir in der Civiqs-Studie nur die Ergebnisse der Teilnehmenden, die sich selbst als Demokraten identifizieren würden, haben aktuell 75% eine positive Meinung von Biden und nur 16% eine negative. Dem gegenüber stehen 90% der republikanischen Befragten, die ein negatives Bild von Biden haben. Dieser Effekt der Parteilinie ist sogar noch stärker für Donald Trump. 89% der Befragten, die sich selbst als Republikaner beschreiben würden, gaben zuletzt an, dass sie von Trump eine insgesamt positive Meinung haben. Nur 8% der republikanischen Befragten haben eine negative Ansicht zu Trump. Sie sind einer Meinung mit 95% der demokratischen Befragten, die ebenfalls nicht viel von dem aktuellen Präsidenten halten. Diese Einsicht ist bedeutsam, weil hier die Effekte der Polarisierung entlang von Parteilinien klar erkennbar werden.
Betrachten wir die bisher dargestellten Entwicklungen dann wird klar, dass es für Trump nicht leicht werden wird, die Tendenz pro Biden umzukehren. Allerdings ist anzumerken, dass sich in den bislang besprochenen Daten eine gewisse Resilienz des aktuellen Amtsinhabers zeigt. Soll heißen, dass er trotz negativer Beliebtheitsbilanz und trotz der aktuell stürmischen Zeiten einen harten Kern an Unterstützern zu haben scheint, der ihm weitgehend die Treue hält.
Wie steht Trump im Vergleich zu früheren Präsidenten im Wahljahr dar? Hier ist die Betrachtung des sogenannten „job approval ratings“ aufschlussreich. Dieser Indikator gibt den prozentualen Anteil der Befragten an, die zum Zeitpunkt der jeweiligen Umfrage mit der Arbeit des Präsidenten zufrieden sind. Das Meinungsforschungsinstitut Gallup bietet dafür eine informative Übersicht der Daten im Zeitverlauf an. Für diese periodische Befragung wird nur das Kriterium der Volljährigkeit der Befragten angelegt. Laut der letzten Umfrage von Gallup, die am 4. Juni endete, liegt der Wert für Trump bei 39%. Im historischen Vergleich aller Präsidenten von Harry Truman (Amtszeit von 1945-1953) bis Donald Trump, die nach ihrer ersten Amtszeit die Wiederwahl anstrebten, ist das ein besonders niedriger Wert. Nur der Demokrat Jimmy Carter hatte mit 38% zu einem vergleichbaren Zeitpunkt im entsprechenden Wahljahr (1980) vor seiner Niederlage gegen den republikanischen Herausforderer Ronald Reagan eine ähnlich niedrige Zustimmung. Natürlich lassen sich 1980 und 2020 kaum vergleichen. Zudem darf der aktuelle Wert für Trump nicht über seine Konstanz auch unter dem Eindruck der Krisen hinwegtäuschen. 2020 bewegten sich seine Zustimmungsraten (approval ratings) nur zwischen 44% und 49%, sodass der aktuelle Wert von 39% weiter zu beobachten sein wird.
Darüber hinaus ist Trumps Rückhalt unter Republikanern/innen weitgehend ungebrochen; für viele ist er sogar eine Kultfigur geworden. Würden wir die Ergebnisse der Umfragen von Gallup nach republikanischen Teilnehmenden filtern, wie wir es weiter oben für die Civiqs-Studien taten, dann läge Trumps Zustimmungswert aktuell bei 85%. Trotz dreifacher Krise (Corona, Wirtschaft und Rassismus-Proteste) scheint ein erheblicher Teil der republikanischen Wählerschaft Trump die Treue zu halten – vermutlich auch weil es für einen überzeugten Republikaner unter dem Eindruck der Polarisierung unmöglich erscheint, den demokratischen Herausforderer als Alternative wahrzunehmen. Diese ausgeprägte Parteitreue lässt sich insgesamt nur vor dem Hintergrund der starken ideologischen Polarisierung verstehen, die wir auf diesem Blog an anderer Stelle bereits beleuchtet haben (siehe Blog-Beitrag VIII). Nicht zuletzt deshalb sind die hier beschriebenen Tendenzen eben nur genau das: Trends.
Spätestens nachdem uns die Umfragen 2016 besonders deutlich zeigten, dass sie noch keinen Schluß auf einen Wahlsieg bedeuten, sei hier eine gewisse Vorsicht angebracht. Die Botschaft der Datenlage ist aktuell zwar relativ klar und kann insofern auch als richtungsweisend verstanden werden. Dennoch sehen wir darin nicht mehr als ein deutliches Momentum für Biden, das am Leben erhalten werden müsste, damit es tatsächlich für einen Sieg im November reicht. Für Trump ergibt sich aber eine prekäre Lage, denn ein rasches Ende der wirtschaftlichen Krise ist kaum absehbar, was ihm als Amtsinhaber sehr schaden könnte. Seit 1940 ist nie ein Präsident in den USA wiedergewählt worden, wenn die Quote der Arbeitslosigkeit im Wahljahr zweistellig war. Im Mai zeigte das Bureau of Labour Statistics eine Arbeitslosenquote von 13,5% an – im April waren es sogar fast 15%. Zuletzt hieß es, dass im Zuge der Corona-Pandemie bereits etwa 45,5 Millionen US-Amerikaner/innen ihren Job verloren haben. Zugleich sei hier erwähnt, dass das Bureau of Labour Statistics zuletzt Schwierigkeiten bei der genauen Berechnung der Arbeitslosigkeit einräumte.
Abschließend ist zu bedenken, dass selbst angesichts der positiven Umfragewerte für Biden (mit 50% zu 38% zeigt die jüngste nationale Umfrage von Fox News vom 16. Juni unter etwa 1.300 registrierte Wähler/innen den bisher größten Vorsprung von Joe Biden) aufgrund des komplizierten Wahlsystems kein Wahlsieg des demokratischen Herausforderers garantiert ist. Selbst wenn Biden die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielte, kommt es wie immer auf die Stimmenmehrheit im electoral college an, die sich aus den Stimmen der einzelnen Bundesstaaten ergibt; von den insgesamt 538 Stimmen der Wahlmänner und -frauen ist die Mehrheit mit 270 electoral votes erreicht. Trump gewann 2016 am Ende mit insgesamt 304 electoral votes das electoral college, obwohl er knapp drei Millionen Stimmen weniger als Hillary Clinton erhielt. Allerdings verlor Clinton zum Beispiel relativ überraschend in den Bundesstaaten Wisconsin und Michigan, die zumindest aktuell für Trump sehr schwer erneut zu gewinnen wären. Mehr denn je ist der Blick daher auf die umkämpften Bundesstaaten zu richten. Es bleibt also spannend und wir werden weiter die Entwicklungen in diesem besonderen Wahljahr für Sie genau beobachten.