Joe Biden auf dem Weg zur Nominierung: Wie positioniert sich die Democratic Party?
von Prof. Dr. Christiane Lemke und Jakob Wiedekind, M.A.:
Nach dem derzeitigen Stand der Vorwahlen befindet sich Joe Biden auf dem besten Weg zur Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Er hat nicht nur die – organisatorisch wegen der Corona-Pandemie umstrittenen – Vorwahlen in Wisconsin am 07.04. klar gewonnen und mit 62,9 Prozent fast doppelt so viele Stimmen wie Bernie Sanders erhalten, sondern er wird nun auch von seinem hartnäckigsten Rivalen, dem progressiven Senator Bernie Sanders offiziell unterstützt, nachdem Sanders seine Kandidatur zurückgezogen hat. In seiner Bekanntgabe, dass er seine Kandidatur für die demokratische Präsidentschaftswahl zurückziehen werde, sagte Sanders, dass er selbst zwar nicht weiter kandidieren werde, aber die Überzeugungen, für die er eintrete, siegreich gewesen seien. In den Worten von Sanders: „Few would deny that over the course of the past five years our movement has won the ideological struggle.“ Inzwischen hat auch Elizabeth Warren, die ähnlich wie Sanders für den progressiven Flügel der Partei kandidiert hatte, Joe Biden ihre Unterstützung zugesagt.
Joe Biden hat nun also wichtige Unterstützer gewonnen und es herrscht Klarheit in einem noch vor wenigen Monaten recht unübersichtlichen Kandidatenfeld. Biden kann davon ausgehen, dass er bei dem für August geplanten Nominierungspartei als demokratischer Herausforderer von Präsident Trump nominiert werden wird. Dennoch ist seine Position nicht unumstritten. Tatsächlich beginnt erst jetzt die eigentliche politische Überzeugungsarbeit, denn die demokratische Partei umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher und teilweise gegensätzlicher Strömungen. Zusätzlich gibt es keine wirkliche Parteimitgliedschaft oder eine Parteidisziplin, wie wir sie in parlamentarischen Systemen Europas kennen. Historisch galten die Demokraten als die Partei, in der Gewerkschafter, Arbeiter, zugewanderte Europäer sowie konservative Südstaatler ihre politische Heimat sahen. Diese Koalition wurde unter Präsident Franklin D. Roosevelt bekannt als die „New Deal Coalition“, welche die demokratische Partei über Jahrzehnte zwischen 1932 und den späten 1960er Jahren prägte und ihr einige Wahlerfolge ermöglichte. Im Zuge der 68er Bewegung entwickelte sie sich immer mehr zu einer Partei, in der sich verschiedene Reformbewegungen, wie die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Frauen- und Schwulenbewegung, Umweltschützer, sowie zugewanderte Latinos organisierten, bis sie schließlich zu der heute charakteristischen Koalition aus progressiven, moderaten und wirtschaftsliberal orientierten Wählerinnen und Wählern wurde. Gleichzeitig gingen südstaatliche konservative Wähler/innen an die Republikanische Partei verloren, die diese Wanderung gezielt mit der Southern Strategy forcierte (siehe Blog-Beitrag V). Die nunmehr besonders diversifizierte Wählerbasis der Demokraten ist jedoch nicht mit einer wirklich konstanten Wählerkoalition wie es die „New Deal Coalition“ war zu verwechseln. Viel eher muss sich die demokratische Partei der schwierigen Aufgabe stellen, aus einer ideologisch heterogenen Gruppe eine solide und im Electoral College mehrheitsfähige Koalition zu schmieden. Das gleicht einem Spagat, der auch Joe Biden vor große Herausforderungen stellen wird. Anders als die Republikanische Partei haben die Demokraten also sehr verschiedene Strömungen unter einem Dach bzw. als Basis für die Wahl eines erfolgreichen Präsidentschaftskandidaten im November zu vereinen.
In einer jüngst erschienenen Studie werden drei Wählergruppen der Demokraten unterschieden: die Hauptgruppe, die der Verfasser „establishment“-Gruppe nennt (ca. 60 Prozent) und die Politiker und Politikerinnen wie Nancy Pelosi, Chuck Schumer, Barack Obama sowie das Democratic National Committee favorisiert; die „progressive left“-Gruppe, bestehend aus den Aktivisten/innen der verschiedenen progressiven Bewegungen von Black Lives Matter über die #MeToo-Bewegung bis hin zur Umweltschutzbewegung sowie den Democratic Socialists of America; sie umfassen nach der Studie etwas weniger als 20 Prozent der demokratischen Wählerschaft. Eine weitere, etwa gleich starke Gruppe von ca. 20 Prozent seien diejenigen, die unternehmerfreundliche Positionen vertreten („neoliberal Democrats“) und damit genau diejenigen Positionen unterstützen, die die progressive Linke vehement ablehnt.
Als voraussichtlicher Präsidentschaftskandidat der Demokraten muss Joe Biden nicht nur diese unterschiedlichen und teils gegensätzlichen Positionen berücksichtigen und miteinbeziehen. Er muss vielmehr auch Defizite ausgleichen und Lücken schließen, die in den Vorwahlen hinsichtlich seines Unterstützerkreises sehr deutlich wurden. Seine schlechten Ergebnisse bei der Vorwahl (oder genauer dem Caucus; ein auf Versammlung basierendes Wahlsystem, das in einem anderen Blog-Beitrag erklärt wird) im Bundesstaat Iowa sind hier nur exemplarisch zu nennen. Zu den Wählergruppen, die Biden schwieriger erreicht, zählen insbesondere junge Wählerinnen und Wähler, die sich in den Vorwahlen, aber auch im Wahlkampf von 2016, mehrheitlich für die progressiven Positionen von Sanders begeisterten und einen regelrechten „Bernie“-Kult hervorriefen, nun aber für einen Kandidaten stimmen müssten, der ihre vehementen Forderungen nach einer radikalen Reform des Bildungssystems, nach Umweltschutz und universeller nationaler Krankenversicherung bislang weniger berücksichtigt hatte. Neben den als progressiv-links geltenden Wählern/innen müsste Biden aber auch die Minderheiten mobilisieren und für sich einnehmen. Dazu gehört die große Gruppe der Latinos sowie die der Afro-Amerikaner/innen, bei denen er zwar einen Vertrauensvorschuss aufgrund seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Barack Obama besitzt, die aber in größeren Zahlen wählen gehen müssten, als dies noch 2016 der Fall war. Auch bei der, wie manche Analysten annehmen entscheidenden Gruppe der Frauen ist Biden eine kontroverse Figur. In den letzten Monaten berichteten linke sowie rechte Medien wiederholt über die Anschuldigungen einer ehemaligen Senatsmitarbeiterin von Joe Biden wegen unangemessener körperlicher Berührung. Im Zeitalter von #MeToo wiegen diese Anschuldigungen schwer; inwiefern sie glaubwürdig sind, da eine der betroffenen Frauen beispielsweise ihre Schilderung mehrfach geändert hat, ist für seriöse Beobachter/innen zumindest offen – wie Michelle Goldberg in der New York Times zu Bedenken gibt. In jedem Fall wird es für Joe Biden entscheidend sein, sich die starken Gegenreaktionen auf die polarisierende Präsidentschaft von Trump, die bereits in den Zwischenwahlen 2018 erkennbar und bedeutend für den Erfolg der Demokraten waren, zu eigen zu machen. Der Weg zum Erfolg wird aber auch über die sogenannten „Independents“ führen. In einer aktuellen Umfrage von Gallup gaben 36% der Befragten an, dass ihre politische Orientierung von den beiden großen Parteien unabhängig sei. Bidens Überzeugungsarbeit wird bei den Unentschlossenen ganz besonders gefragt sein.
Interessant ist auch die Frage der Vizepräsidentschaft, die für die inhaltliche Ausrichtung der demokratischen Partei während einer möglichen Präsidentschaft von Biden richtungsweisend ist. Die potenziellen Kandidaten/innen stehen symbolisch für die ideologische Vielfalt der demokratischen Partei: Fällt die Entscheidung für die erfahrene und kämpferische Politikerin Stacey Abrams aus Georgia, welche Befürworter des „Colorful America“ für die klügste Wahl halten, um vor allem jüngere Wähler/innen, Afro-Amerikaner/innen und Latinos anzusprechen und die Wahlbegeisterung und damit Stimmabgabe im November zu befördern? Oder sind doch die moderaten Kandidatinnen Kamala Harris aus Kalifornien oder Amy Klobuchar aus Minnesota die Favoritinnen, wenn es um die Bereicherung des Präsidentschaftsteams der Demokraten geht? Nicht zu unterschätzen sind auch die Aussichten von Elizabeth Warren, da sie viele Positionen von Bernie Sanders mitträgt und Biden somit bei der Mobilisierung des progressiven Flügels der demokratischen Partei weit nach vorne bringen könnte. Hier offenbart sich der zuvor erwähnte strategische Spagat der Demokraten besonders deutlich, da eine zu starke Orientierung auf progressive Positionen die moderaten und die wirtschaftsliberalen Wählergruppen abschrecken könnte. Nichts ist unmöglich in diesen Monaten der Coronakrise; auch eine überraschend eintretende Kandidatur einer der Gouverneurinnen oder Gouverneure, die durch ihr kluges und umsichtiges Verhalten nationale Aufmerksamkeit und öffentlichen Respekt in der Bewältigung der Pandemie erworben haben, kann nicht ausgeschlossen werden. Beispielhaft müssen hier Gretchen Whitmer in Michigan und Andrew Cuomo im Bundesstaat New York genannt werden.
Abschließend kann resümiert werden, dass mit Joe Biden der Herausforderer für Donald Trump gefunden zu sein scheint. Diese wahrgenommene Klarheit ist jedoch mit Blick auf die heterogene Basis der demokratischen Partei und der komplexen Frage nach der Vizepräsidentschaft trügerisch. Zudem bleibt die entscheidende Herausforderung für die Demokraten, aus der spürbaren Opposition gegen Trumps Präsidentschaft, die auch in der starken Kritik an seinem Umgang mit der Coronakrise deutlich wird, eine mehrheitsfähige Koalition zu formen. Damit einher gehen viele Fragen, die hier nur umrissen werden konnten. Es ist jedoch klar, dass das Rennen um das Weiße Haus nun erst richtig beginnt und dass es weiterhin eng bleibt.